Wir sind eingekesselt von einer Flussbiegung. Was an und für sich keine große Rolle spielen würde, stünde uns nicht dieser 500 Kilogramm schwere Yak-Bulle gegenüber, der aggressiv schnaubend seinen Vorderhuf durch den Staub zieht. Mit tief gesenktem Haupt präsentiert er seine mächtigen, gebogenen Hörner, die in einen menschlichen Körper wie in ein Stück Butter eindringen können.
Im Geiste habe ich mich schon halb von meinen Reisepartnern Sebastian Dörr und Sebastian Marx verabschiedet, denn obwohl wir einen möglichst großen Bogen um die Herde des Bullens gelaufen sind, lässt er es sich nicht nehmen, uns in unsere Schranken zu verweisen. Über mehrere hunderte Meter hinweg treibt er uns durch das Tal bis wir letztlich nicht mehr ausweichen können. Der Fluss hinter uns ist reißerisch, ragt uns bis zur Hüfte und wird zu allem Überfluss von einem eiskalten Gletscher gespeist.
Einen kurzen Moment lang erwägen wir, ob wir die Bestie irgendwie verscheuchen können. In Anbetracht seiner pulsierenden Muskelstränge wirkt dieses Vorhaben jedoch gerade zu lächerlich.
Es bleibt also lediglich die Flucht durch das Eiswasser. Mit jedem Schritt, den wir auf den Fluss zugehen, kommt der Bulle einen Schritt näher und seine Augen verraten, dass er kurz davor ist anzugreifen.
Beim Eintritt in den Fluss zerrt die Strömung augenblicklich heftig an uns, während wir inklusive Fahrrad gute dreißig Kilogramm Ausrüstung auf unseren Schultern balancieren. Schnell dringt die Nässe in unsere Schuhe, so dass wir bald unsere Zehen nicht mehr spüren.
Doch kaum sind wir mitten im Getümmel des Flusses, lässt der Bulle urplötzlich von uns ab. Ja, er verspottet uns gar mit einem ungehaltenen Galopp. Ganz so, als hätte er sich nur einen schlechten Scherz erlaubt. Als ob er niemals erwogen hätte anzugreifen und uns einfach einen herben Schrecken einjagen wollte. Er röhrt und rennt zurück zu seiner Herde, wo er sich von dutzenden Yak-Kühen feiern lässt. Wie begossene Pudel schauen wir dem Tier hinterher, als wir das trockene Ufer erreichen.
Während wir das Wasser aus unseren Schuhen leeren, schweifen meine Gedanken. Wir befinden uns auf guten 5000 Metern Höhe, irgendwo nordwestlich von Leh, mitten im indischen Himalaya. Sechs Wochen lang wollen wir die Ladakh-Region auf unseren Mountainbikes erkunden. Dabei wollen wir stets selbstversorgend unterwegs sein, weshalb wir auf jegliche Guides und Packesel verzichten. Die Mitarbeiter der Trekkingagentur, welche uns vor einer Woche die Erlaubnis für die Überschreitung des Lasimiru La und den Abstieg ins Nubra Tal ausgestellt hatten, erklärten uns jedoch für verrückt, dass wir diese Route mit dem Fahrrad begehen wollen. Während mir vor Kälte die Knie schlottern, kann ich ihnen rückblickend beinahe zustimmen.
Drei ganze Tage trugen und schoben wir hinauf zu dem auf 5400 Metern gelegenen Pass. Mehr als nur einmal verfluchten wir dabei die ganze Unternehmung und gaben uns gegenseitig die Schuld an diesem dämlichen Unterfangen. Das kulinarisch ausgefallene Menü, bestehend aus morgendlichem Babybrei, abendlicher Pasta und einem spärlichen Energycake, sorgte dabei nicht unbedingt für eine Erheiterung der Stimmung.
Doch als wir letztlich den Lasmiriu La erreicht hatten, waren alle Strapazen beinahe vergessen. Wir fanden uns oberhalb einer beachtlichen Gletscherzunge wieder, die von den gut 5500 Meter hohen Gipfeln hinab ragte. Die leicht angetaute Oberfläche des südseitig gelegenen Gletschers glitzerte geradezu hypnotisch. Wir standen zwischen wehenden Gebetsfahnen und Steinmännchen, die zu hunderten auf dem Pass erbaut wurden. Ein heftiger Wind fegte über den Kamm und verhalf einem Schwarm Vögel zum mühelosen Gleitflug, während sich in der Entfernung die über 7000 Meter hohen Riesen zeigten. Es ist interessant, wie ein solcher Moment das Fluchen mehrerer Tage aufwiegen kann. Während ich vor zehn Minuten am liebsten noch hätte umdrehen wollen, konnte ich mir in diesem Moment keinen schöneren Ort vorstellen.
Mit einem Grinsen im Gesicht schossen wir auf unseren Rädern über den steilen Gletscher. Zuvor hatten wir uns informiert, ob mit Spalten zu rechnen sei, was glücklicherweise verneint worden war. Wie auf Skiern wedelten wir durch den Schnee und machten uns durch laute Jubelrufe bemerkbar. Vermutlich gibt es nicht allzu oft die Möglichkeit, mit dem Mountainbike über ein Gletscher abzufahren, aber soviel sei verraten: Es macht höllischen Spaß.
Letztlich wurden wir in ein üppiges, grasgrünes Tal entlassen, wo wir den langersehnten Flow finden wollten. Über schmale Pfade, die immer wieder von Schutt unterbrochen waren, schlängelten wir uns hinab ins Tal. Keine einzige Beschwerde verließ unsere Münder, bis wir eben auf jenen spitzbübischen Yak-Bullen getroffen waren.
Nun stehen wir also vor Nässe triefend am Ufer, immer noch dem Bullen hinterherblickend und schauen uns gegenseitig verwirrt in die Augen, bevor wir in schallendes Gelächter ausbrechen. In einem Anflug puren Galgenhumors lachen wir über unser knappes „Entkommen“. Anschließend schleppen wir uns noch außer Sichtweite der Yaks und schlagen für heute unsere Lager auf.
Als wir den feuerroten Sonnenuntergang betrachten, der die umliegenden Bergflanken in ein beeindruckendes Licht taucht, sind die Nudeln mit Fertigsoße so schmackhaft wie lange nicht mehr. Gut gelaunt rekapitulieren wir nochmals den Tag, während das Abendrot von einer beispiellosen Flut an Sternen abgelöst wird. Die Milchstraße liegt gar so deutlich vor dem bloßen Auge, dass man das Gefühl hat, man könnte bis in die entlegensten Winkel der Galaxie blicken. Und obwohl in Indien jeder Tag in den Bergen mit einem derart traumhaften Nachthimmel zu Ende geht, schlafen wir auch heute wieder mit einem Lächeln im Gesicht ein.
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Nikolai Holder (25) gehört zu der Sorte Mountainbiker, die ihr Fahrrad häufiger auf den Schultern tragen, als tatsächlich im Sattel zu sitzen. Bikebergsteigen ist seine Lieblingsdisziplin, die er möglichst oft in entlegenen Gegenden auszuleben versucht. Die Ungewissheit, das Abenteuer und fremde Kulturen motivieren ihn dazu, was letztlich zu ungewöhnlichen Reisen und Erstbefahrungen in Osteuropa, der Türkei, Georgien und Kirgistan geführt hat. Wenn er keinen Fahrradlenker in der Hand hält studiert Nikolai Wirtschaftswissenschaften in Innsbruck. Dass die Wahl des Studienortes des gebürtigen Schwaben auf Österreich fiel hängt natürlich vor allem mit seiner Passion zusammen. Was er dabei nicht bedacht hat: Bei Kaiserwetter in die Uni gehen ist in Innsbruck leider ein Ding der Unmöglichkeit. www.naturephile.de
Fotos: Sebastian Marx